Zwischen gestern und morgen – Artems neuer Weg
Streetworkerin Sarah:
Ich bin Sarah, Streetworkerin in Plauen. Seit Beginn des Ukraine-Kriegs sind viele junge Menschen mit ihren Familien oder allein bei uns angekommen – nicht selten aus einem Leben, das von einem Tag auf den anderen zerbrach.
Heute erzähle ich euch von Artem, 14 Jahre alt. Er kam vor gut drei Jahren mit seiner Mutter nach Plauen. Und obwohl er heute in einer Regelklasse lernt, Fußball spielt und halbwegs Deutsch spricht – trägt er vieles in sich, das man nicht auf den ersten Blick sieht.
Artems Geschichte:
Vor dem Krieg war alles ganz normal. Schule, Freunde, Fußballtraining. Ich war ganz gut im Tor. Mein großer Bruder hat immer gesagt: „Du wirst mal Profi.“ Dann war da plötzlich dieser Morgen. Sirenen. Mein Vater rief nur: „Rein in den Keller!“ Ich erinnere mich an Staub, Angst, an den Blick meiner Mutter. Ich wusste: Das hier verändert alles. Für immer.
Meine Mutter hat gesagt: „Wir müssen weg hier.“ Mein Vater durfte nicht mit. Mein Bruder auch nicht. Sie sind geblieben. Vielleicht kämpfen sie. Vielleicht leben sie noch. Wir wissen es nicht.
Die Reise war verwirrend – Busse, Bahnhöfe, fremde Sprachen, schlaflose Nächte. Ich hatte meinen Rucksack dabei. Er war irgendwann das Einzige, was noch gleich war.
Jetzt bin ich hier. In Plauen. Die Straßen sind ruhig, der Park ist grün, es gibt Ordnung – sogar im Busfahrplan. Aber in meinem Kopf ist manchmal noch Chaos. Vor allem nachts.
In der Schule sind viele Kinder aus verschiedenen Ländern. Anfangs war ich in einer DAZ-Klasse, fast nur mit anderen Ukrainern. Wir haben Deutsch gelernt, aber wenig gesprochen. Ich habe mich oft gefragt, was ich hier eigentlich soll. Und ob wir irgendwann zurückgehen. Und wie es dann dort sein wird. Unser Haus, unsere Stadt – es ist nur noch Schutt dort. Ich habe Bilder gesehen und nichts mehr wiedererkannt.
Inzwischen bin ich in der Regelklasse. Ich verstehe vieles, aber nicht alles. Wenn der Lehrer schnell spricht, sehe ich manchmal nur noch das Gesicht – die Worte kann ich nicht mehr auseinanderhalten. Wenn viele Leute durcheinanderreden, kann ich nicht mithalten. Wenn sie lachen, hoffe ich, dass es nicht um mich geht. Dann tue ich lieber so, als müsste ich etwas aus meiner Schultasche holen.
Aber ich habe ein paar Freunde. Zwei aus der Parallelklasse. Wir reden viel mit Gesten und lachen trotzdem. Beim Fußball im Park ist die Sprache egal. Da zählt, ob du den Ball halten kannst.
Ich träume manchmal von zu Hause. Von unserem alten Hof. Vom Hund, der dort geblieben ist. Und von meinem Bruder. Ich weiß nicht, ob ich ihn wiedersehe. Aber ich hoffe es.
Manchmal träume ich auch von hier. Vom nächsten Sommer. Von einem Zeltlager. Von etwas, das bleibt. Ich bin Artem. Und ich gehe meinen Weg – Schritt für Schritt. Mit zwei Sprachen im Kopf und einem halben Zuhause in der Tasche.
Fazit von Streetworkerin Sarah:
Flucht bedeutet nicht nur, irgendwo anzukommen – sondern auch, mit offenen Fragen weiterzugehen. Artem zeigt uns, wie viel Stärke in einem jungen Menschen stecken kann, selbst wenn die Richtung noch unklar ist. Was ihm hilft, sind Begegnungen: Gespräche auf Augenhöhe, ein Platz im Team, ein Lehrer, der langsamer spricht – oder einfach jemand, der fragt: „Wie geht’s dir wirklich?“
💡 Neues Heute:
- Viele Jugendliche aus der Ukraine haben sprachliche Fortschritte gemacht und besuchen reguläre Schulangebote.
- Dennoch bestehen immer noch psychische Belastungen – Studien zeigen hohe Raten von Angst, Traurigkeit oder Traumafolgestörungen.
- Für erwachsene Geflüchtete gelten Herausforderungen wie Kinderbetreuung, unklare Rechtslagen oder Anerkennung von Abschlüssen weiterhin.
- Und ja, Kontakt zu zurückgebliebenen Familienmitgliedern ist nach wie vor ein Thema – manchmal aus Angst, manchmal aus Ungewissheit, manchmal wegen Kommunikationsproblemen.
💡 Unterstützung für Jugendliche wie Artem – lokal & online
(Stand: August 2025 – bitte aktuell prüfen)
In Plauen:
- Ukraine-Hilfe der Stadt Plauen: Vermittlung von Integrationshilfen und Beratungsstellen
🔗 www.plauen.de/ukrainehilfe - Diakonie Vogtland / AWO Plauen – Migrationsberatung
☎️ 03741 / 49040 bzw. 719576 - Jugendmigrationsdienst (JMD) Plauen: Hilfe bei Sprache, Schule, Beruf
- Ukrainische Gemeinde / Willkommenscafés: Orte für Austausch & Unterstützung
Online:
- Germany4Ukraine: Offizielle Plattform der Bundesregierung
🔗 www.germany4ukraine.de
Alle Angebote sind freiwillig, kostenfrei und unterstützen beim Ankommen, beim Alltag und beim Aufbau neuer Perspektiven.
